Test Kawasaki Versys 1000 Grand Tourer SE - Reisegodzilla mit Ninja-Optik

Test
13.08.2019

Von: Philipp Bednar
Die Kawasaki Versys 1000 wird als Adventure Tourer angepriesen. Tourer kann ich unterschreiben, Adventure auch, wobei ich nicht wüsste, warum man mit dem dicken R4-Reisedampfer mehr als einen festen Schotterweg befahren möchte. Im Test glänzt die Versys mit einem ganz cleveren Feature.

Ergonomie

Aufgestiegen, mhm, der Sattel der Kawasaki Versys 1000 ist wie ein Fauteuil: breit, weich, sehr bequem. Jepp, so lassen sich viele Kilometer am Stück abspulen. Der Lenker ist breit und angenehm gekröpft. Die Fußrasten sind genau dort, wo ich meine Füße automatisch hinplatziert hätte. Kurz und knapp: Ich sitze top auf der Kawa. Sitzhöhe: 840 Millimeter. Der Tank ist um den Schritt nicht zu breit, ansonsten aber ein mächtiges Gerät (21 Liter Tankinhalt). Blick auf das farbige Display: hübsch. Zwar etwas bunt wie man es von Japanern kennt, aber der Tacho bietet viele Infos, beispielsweise eine Schräglagenanzeige, Gasstellung, Bremsdruck. Die Helligkeit des Displays lässt sich mittels Tastendruck schnell anpassen und auch zwischen Tag- und Nachtmodus switchen. Die Versys bietet Heizgriffe, die über einen kleinen Knopf aktiviert werden. Die Bedienung ist nicht ganz narrensicher. Ebenso die des Tempomats. Er funktioniert nur in einem gewissen Geschwindigkeitsfenster und ist gangabhängig. Wenn man die Bedienungsanleitung nicht gelesen hat, wird man dessen Bedienlogik nicht verstehen. Grundsätzlich ist die gesamte Menüführung nicht selbsterklärend. Schade, ginge besser. Denn die Versys bietet unzählige Features, die man aber kaum findet, weil sie sich in Untermenüs verstecken. Das dreiteilige Kofferset ist grundsätzlich praktisch, nur die Form der Seitenkoffer kostet etwas Stauraum und das Topcase braucht Kraft und Technik, um aufzuspringen. Praktisch für das Kettenschmieren: der Hauptständer. Eines der besten Features der Versys ist aber der Windschild. Selbst bei deutlich erhöhtem Autobahntempo weht kaum ein Lüftchen um den Fahrer. Das Geheimnis dahinter ist ein großer Schlitz in der Mitte des Windschilds. Dieses dürfte den Luftstrom so geschickt umleiten, dass erst gar keine Verwirbelungen hinter dem Windschild entstehen. Sehr lässig gelöst. 

Handling

Die Kawasaki Versys 1000 Grand Tourer SE ist ein mächtiger Bock. Mit rund 260 Kilogramm kein Leichtgewicht (ohne Koffer und Extras). Dafür ist das Handling überraschend leichtfüßig. Einmal in Bewegung wird das hohe Gewicht gut kaschiert. Auf meinen Notizblock steht: "deutlich leichtfüßiger als gedacht". Stimmt. Ich hätte mir die Kawa schwerfälliger vorgestellt. Erst bei sehr hoher Schräglage wirkt die Versys etwas kippelig an der Front. Beim starken Anbremsen bauen sich am Vorderrad spürbare Vibrationen auf. Ob die vom Reifen oder der Bremse kommen, war für mich nicht klar erspürbar. Fakt ist aber: Man kann mit der Versys ziemlich flott ins Eck stechen und enge, spitze Linien fahren, sofern man dem Vorderrad genug vertrauen schenkt. Denn wie erwähnt, bei sehr hoher Schräglage lässt die Präzision etwas nach. Stark dagegen die Hinterradperformance und die direkte Weiterleitung an den Fahrerhintern. Denn obwohl spürbare Bewegung im Fahrwerk sind, bleibt die Kawa ausbalanciert und harmonisch. Das Heck arbeitet dabei präziser als die Front und vermittelt viel Vertrauen. Durch die gute Sitzposition braucht man sich im Sattel nicht viel Bewegung und kann die Versys trotzdem dynamisch ums Eck zirkeln. Macht Freude.

Motor / Getriebe 

Harte Fakten: 1043 Kubikzentimeter Hubraum, vier Zylinder, 120 PS, 102 Newtonmeter Drehmoment. Damit ist die Versys nicht die stärkte Tourerin, aber der Motor zeichnet sich durch seine tolle Fahrbarkeit aus. Die Gasannahme ist butterweich und präzise, der R4 vibriert kaum - schon gar nicht störend. Drei Fahrmodi stehen zur Auswahl: Sport, Road, Rain. Die Umschaltung könnte etwas einfacher gehen, daher war ich fast ausschließlich im Sport-Modus unterwegs. Der Versys-Motor punktet mit Drehmoment satt in der Mitte, dreht frei nach oben raus und legt dann sogar noch etwas zu. Der Sound erinnert mich an einen Wirbelwind. Eigen, hat aber was. Fein: Die Versys kommt mit Quickshifter samt Blipper-Funktion. Bedeutet kupplungsloses Rauf- und Runterschalten. Funktioniert gut, im Test ist der Quickshifter beim Hochschalten nur manchmal im niedrigerne Gang hängen geblieben und ich musste nochmals hochschalten. Da ich aber tendenziell sehr zart und weich versuche zu schalten, kann es auch daran gelegen haben. Ist mir schon bei mehreren Testmodellen aufgefallen. Die Seilzugkupplung lässt sich grundsätzlich präzise bedienen, hat aber etwas gerupft. Und: Wenn man den ersten Gang runterschaltet, fühlt es sich an, als sei das Getriebe gummigelagert. Es gibt kein klassisches, mechanisches "Klack" sondern ein ganz sanftes, geräuschloses reinflutschen. Nicht schlecht, nur ungewohnt. Ganz fein: Die Versys 1000 ist ein überraschend guter Wheeliebock. Traktionskontrolle aus oder auf Stufe 1 und die Versys lässt sich mit der Kupplung im ersten Gang aufs Hinterrad stellen. Für die Primörzielgruppe vielleicht nicht kaufentscheidend aber sehr überzeugend. 

Fahrwerk

Die Kawasaki kommt mit einem elektronischen Fahrwerk. Und einmal mehr zeigt sich: Elektronische Fahrwerke sind abseits der Rennstrecke, auf wechselnden Untergrundbeschaffenheiten der Landstraße, einfach top. Die Versys liegt grundsätzlich etwas weich aber harmonisch auf der Straße. Gibt man ihr die Sporen, zwingt man sie auf die enge Linie, bremst hart an und geht hart ans Gas, schluckt das Fahrwerk viel dynamische Lastverteilung ohne grausliche Unruhen an den Fahrer zu vermitteln. Wenn man sich einmal darauf eingestellt hat, dass sich die Kawasaki um die Hochachse etwas mehr bewegt als ein sportliches Nakedbike, lässt es sich wunderbar durch die Kurven schwingen. Ich habe Kawasaki bei vielen der letzten Testmodelle dafür gelobt und die Versys zeigt es auch: Die Motorräder sind fahrwerkstechnisch nicht spitz und hart ausgelegt, sondern bieten eine sehr feine Ausgewogenheit, zielgerichtet für den normalen bis leicht sportlichen Landstraßeneinsatz. Will man Bestzeiten auf der Hausstrecke aufstellen, ist die Versys nicht die beste Wahl. Aber wenn man mit 15 Prozent weniger Performance auskommt, fährt man mit ihr den ganzen Tag entspannt ein hohes Tempo. Das funktioniert einfach solide und gut. 

Bremsen

Auf der Bremse spürt man der Kawasaki Versys 1000 ihr Gewicht an. Vor engen Ecken muss man früher in die Eisen gehen, sonst wird es Eng am Eingang. Dabei offenbart sie eine leichte Tendenz zum Bremsenfading. Der zweite Biss am Hebel war immer der bessere. Ich vermute, dass sich ein kleines Luftbläschen in den Leitungen eingeschlichen hat. Nicht schlimm aber wahrnehmbar. Nett: Die Radialbremspumpe, die sich fein dosieren lässt und sportliches Feedback bietet. An der Front kommen 310-mm-Scheiben zum Einsatz, am Heck werkt einen 250-mm-Bremsscheibe. Die Hinterradbremse ist mittelmäßig zu dosieren und zeigt auch nur eine mittelmäßige Performance. Auch hier dürfte es einfach am Gewicht der Versys liegen. Um den ABS-Regelbereich (inklusive Kurven-ABS) zu spüren, muss man sehr grobmotorisch agieren. Selbst bei sportlicher Fahrweise wäre mir kein negativer ABS-Eingriff aufgefallen. Urteil: eine grundsolide Bremse, passend zum Motorrad. Ein etwas sportlicherer Erstbiss der Vorderradbremse würde ihr aber auch gut stehen.

Aufgefallen

Wie viel Ausstattung es im Versys 1000-Sattel gibt. Der hervorragende Windschutz, das überraschend leichte Handling, die sportlich, scharf geschnittene Frontmaske. Ninja-Akzente sind erkennbar. Die hohe Zuladungsmöglichkeit (220 kg) - für echte Tourenfahrer ein wichtiger Punkt. Wie lässig die Versys aufs Hinterrad geht.

Durchgefallen

Die Menüführung ist nicht intuitiv, die Seitenkofferform kostet etwa Stauraum.

Testurteil Kawasaki Versys 1000 Grand Tourer SE, by p.bednar

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